Die Bedeutung des Blumenweges (kadô)

Die japanischen Zeichen für Ikebana bedeuten sinngemäß etwa: „Blumen zu ihrer eigentlichen, schönsten Gestalt erwecken“.

Eine wesentliche Voraussetzung, Pflanzen bzw. Blumen zu ihrer eigentlichen, schönsten Gestalt zu erwecken ist, sich mit
Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen auf ihre jeweilige Wuchsform, die Eigenart ihrer Blätter, die Farbe ihrer Blüten etc. einzulassen. Die Kreativität und Kunstfertigkeit dessen, der einer Pflanze dann in einer Ikebana-Skulptur einen neuen Platz gibt, besteht darin, ihre jeweilige ‚Individualität‘ in einem solchen Arrangement besonders herauszustellen. Je nach Absicht des Arrangierenden entstehen dabei Ikebana-Skulpturen, die streng der Tradition verbunden sind oder solche, die mehr dem zeitgenössischen Lebensgefühl entsprechen. Hierin liegt kein Widerspruch, da die Kunst des Ikebana von jeher eine im höchsten Grade offene, nicht abgeschlossene Kunstform darstellt, die von der Spannung zwischen Natur und Kunst lebt und stets auch das Empfinden der jeweiligen Zeit widerspiegelt. Dabei ist – neben der räumlichen Dimension – die zeitliche von großer Bedeutung, denn eine Ikebana-Skulptur ist ein vergängliches Kunstwerk, dessen Vollendung nur kurze Zeit währt; dann beginnt bereits – der Natur folgend – ihr leises Vergehen.

Der Begriff der ‚Vergänglichkeit allen Seins‘ spielt eine prägende Rolle in der Kultur und Kunst Japans. Es ist vor allem der Zen-Buddhismus, der den Menschen lehrt, den Sinn des Lebens ganz im Hier und Jetzt, im zeitlosen Augenblick zu erleben und sich im Urgrund seines Seins als Teil des Kosmos zu erfahren, im Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Alle Wesen – Pflanze, Tier, Stein und Mensch – sind einbezogen in den Kreislauf des Werdens, Reifens und Vergehens. Diese Sicht allen Seins spiegelt sich in fast allen Künsten Japans. Sie gibt ihnen ihren eigentlichen Sinn und hebt sie über die Sphäre rein ästhetischer Betrachtung heraus.

Spricht man in Japan vom ‚geistigen Gehalt‘ einer Kunstform, so spricht man gleichzeitig auch vom ‚Weg‘, japanisch: dô, den ein Mensch gehen muß, der sie erlernen will. Die japanische Kultur kennt viele solcher ‚Wege‘: In der Malerei, der Teezeremonie, der Haikudichtung, der Blumenkunst, im Bogenschießen, der Fechtkunst und andere mehr. Der Weg als solcher durchläuft Generation auf Generation, birgt Erfahrungen vieler und nimmt Erfahrungen weiterer auf. Entschließt man sich, diesen Weg zu beschreiten, bedeutet dies, daß die Kunst dem Praktizierenden mehr sein muß als nur das Erlernen einer Kunstfertigkeit im Umgang mit Pflanzen und unter der Führung eines Meisters. Der Weg soll den Menschen auch nach innen, in die Tiefe seines Menschseins führen, ihm helfen, etwas von der letzten Wahrheit allen Seins, den Grundgesetzen der Welt zu erfassen. Und er soll sich darin als Teil eines Ganzes erleben und vollenden.

 

Ikenobo und der Blumenweg

Die Anfänge des Blumenweges in Japan liegen weit zurück. So groß die Zahl der Schulen heute auch ist, der Überlieferung nach beziehen sie sich alle auf Ono no Imoko, der im 7. Jahrhundert von der Kaiserin Suiko nach China gesandt wurde und dort lernte, Blumen als Opfergabe vor dem Altar Buddhas aufzustellen.

Diese Kunst fand auch in Japan Eingang, als der Kronprinz Shotoku (574-622 n. Chr.) eines Tages eine vom Meer angespülte Statue des Bodhisattwa Avalokitesvara fand. Er machte sie zu seiner Schutzgottheit und errichtete ihr einen Tempel. Imoko stellte hier alltäglich, so wie er es in China gelernt hatte, vor dem Bildnis der Gottheit Blumen auf. Neben dem Tempel befand sich ein Weiher. An seinem Ufer errichtete er seine Klause und vertiefte sich mehr und mehr in die Kunst des Blumenstellens. Seine Lehre erhielt schließlich den Namen Ikenobo, was so viel bedeutet wie: ‚Klause am Weiher‘.

Mitte des 15. Jahrhunderts wird die Ikenobo-Schule erstmals urkundlich erwähnt und man verlieh ihr den kaiserlichen Titel ‚Stammhaus der Blumenlehre‘. Mit Hauptsitz in Kyoto ist sie nicht nur die älteste, sondern auch größte Ikebana-Schule Japans. Sie wird von Ikenobo Senei, dem 45. Nachfolger, und seiner Tochter, Yuki, geleitet. Gelehrt werden sowohl klassisch-traditionelle als auch freie Ikebana-Formen.

Rikka Shofutai von Dr. phil. Horst Nising Dipl. Theol.

Rikka-Shofutai

Aus der Sitte, Blumenarrangements als Opfer in den Tempeln aufzustellen, entwickelte sich das Rikka (übersetzt: „stehende Blume“), die älteste Form des Ikebana, von der sich im Laufe der Zeit alle weiteren Ikebana-Stile ableiten lassen. Seine Blütezeit lag zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert. In großen Bronzegefäßen und mit einer Vielzahl von verschiedenen gegensätzlichen, aber dennoch sich ergänzenden Zweigen und Blüten entstand aus sieben bis neun Hauptteilen ein Rikka Arrangement als Sinnbild des Kosmos.

Das Rikka-Shofutai (‚Shofutai‘ bedeutet ‚richtige Form‘) wird heute in seinen modernen Variationen einfacher und leichter gestaltet; dennoch sind nach wie vor eine Reihe überlieferter Grundregeln zu beachten.

 

Rikka-Shimputai

1999 stellte Headmaster Senei Ikenobo eine moderne Form des Rikka vor, das Rikka Shimputai. Shimputai bedeutet übersetzt: ’neue Form‘. Diese erlaubt dem Gestalter eine wesentlich größere künstlerische Freiheit, Ideen und Veränderungen in Gesellschaft und Umwelt des 21. Jahrhunderts auszudrücken. Der Schönheit der Pflanzenmaterialien in spannungsreichen und überraschend wirkenden Kombinationen Ausdruck zu verleihen und sich dennoch dem Geist traditioneller Rikkaformen verbunden zu fühlen, ist das besondere Anliegen dieser neuen Kreation.

Rikka Shimputai von Professor Manabu Noda

Shoka-Shofutai

Aus dem Rikka entwickelte sich etwa seit dem 15. Jahrhundert die zweite Grundform des Ikebana: das Shoka (übersetzt: „gestellte, lebendige Blume“), das im 18./19. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte. In seinen Grundformen und Regeln ist es wesentlich einfacher als das Rikka und betont in seiner strengen und schlichten Anordnung in besonders deutlicher Weise die Eigenart der Natur der jeweils verwendeten Pflanzen.

Aus dem Shoka-Gefäß, das ursprünglich die Erde, aus der alles Leben erwächst, darstellte, steigt aus einer gemeinsamen Fußlinie das Arrangement auf, um sich dann stufenweise in ihre drei Hauptteile – Shin, Soe und Tai – zu entfalten. Man unterscheidet Arrangements, die entweder aus einem oder aus zwei Materialien gearbeitet werden und in ihrer Erscheinungsform strenger und schlichter wirken als die moderne Variante, die dem Gestalter durch die Verwendung von drei Materialien mehr individuelle Freiheit läßt.

Shoka Shofutai mit zwei Materialien von Professor Furukawa

Shoka Shimputai

Shimputai ist eine moderne Form des Shoka, die 1977 von Ikenobo Senei, dem 45. Headmaster der Ikenobo-Schule, neu gestaltet wurde. Er nimmt damit eine Form des 17. Jahrhunderts auf, in der deutlich die beiden Elemente des Kosmos – „Yo“ und „In“ (chin. „Ying“ und „Yang“) – einander gegenüber gestellt sind und sich zugleich zur vollkommenen geometrischen Figur des Kreises ergänzen.

Das Shoka Shimputai gewinnt seinen Ausdruck durch die sich kontrastierenden Hauptlinien Shu und Yo sowie durch die sie ergänzenden Ashirai-Linien. Seine Erscheinungsform ist klar, einfach und überraschend in der Kombination ungewöhnlicher Pflanzen.

Shoka Shimputai von Prof. Manabu Noda

Freie Formen (Freestyle)
(Moribana, Nageire, Jiyuka)

Zu den sogenannten Freien Formen (Freestyle) gehören das Moribana (übersetzt: „Blumenbusch“), ein Arrangement in Schalen, und das Nageire (übersetzt: „hineingeworfene Blumen“), ein Arrangement in Vasen. Mehr als in jeder anderen Ikebana-Form können individuelle Gefühle, Gedanken oder Themen – unter Berücksichtigung bestimmter Gestaltungsprinzipien – künstlerisch zum Ausdruck gebracht werden. In beiden Formen werden die Pflanzen entweder innerhalb bestimmter Grundregeln oder in freier Gestaltung als natürlich wirkende Kompositionen arrangiert.

Dagegen können im Jiyuka (jiyu = frei, ka = hana = Blume) auch nicht pflanzliche Gestaltungsmittel wie Stein, Metall und Kunststoff verwendet oder andere geeignete Pflanzenteile als Farb- und Formträger genutzt werden. Dabei ergeben sich neue Beziehungen von Punkt, Linie, Masse, Farbe und Fläche, die sich in – teilweise überraschenden – Konstruktionen zu ästhetischer Einheit verbinden.

 

Jiyuka von Dr.phil. Horst Nising Dipl. Theol.

 

Moribana von Christel Trinler

 

Nageire von Christine Kuhl